Reisebericht Paraguay
Macht Paraguay jetzt die Rolle rückwärts?
In der dritten Augustwoche besuchte eine Delegation des Deutschen Bundestages Paraguay – nicht nur um Projekte der deutsch-paraguayischen Entwicklungszusammenarbeit zu begutachten sondern auch um mehr über die Hintergründe des dubiosen Machtwechsels zu erfahren, der sich am 22. Juni in Asunción abgespielt hatte und von mehreren lateinamerikanischen Staaten als "kalter Putsch" bezeichnet worden war. Auf dem Programm der Reise standen deshalb neben Projektbesuchen auch Gespräche mit Menschenrechtsverteidigern sowie Vertretern der neuen und der abgesetzten Regierung.
Thilo Hoppe (Bündnis 90/Die Grünen) reiste anschließend nicht wie seine Kollegen von CDU, SPD und FDP nach Uruguay und Brasilien weiter, sondern blieb zwei Tage länger in Paraguay und recherchierte in der Konfliktregion, in der im Juni bei einem Kampf um ein besetztes Land elf Bauern und sechs Polizisten ums Leben gekommen waren. Hier sein Bericht:
Der in den Medien als "Massaker von Curuguaty" bezeichnete Vorfall hatte auch im Amtsenthebungsverfahren gegen (Ex)präsident Fernando Lugo eine große Rolle gespielt. Lugos Gegner hatten ihm vorgeworfen, die Bauern zu Landbesetzungen ermuntert und damit den Konflikt geschürt zu haben. Lugo und seine Leute sind hingegen der Meinung, dass der Vorfall nur als Vorwand diente, um einen Präsidenten zu beseitigen, der sich gegen die Interessen der Großgrundbesitzer und des Agro-Business gestellt hatte.
Was war in Curuguaty konkret passiert? Schon seit vielen Jahren streiten sich dort der Großgrundbesitzer und Politiker der Colorado-Partei, Riquelme Blas, mit Kleinbauern und deren Gewerkschaften um die 2000 Hektar große Finca Nummer 9. Diese Finca gehört zu den sogenannten "tierras mal habitadas", große Ländereien, die während der Stroessner-Diktatur (1954-1989) an treue Gefolgsleute des Generals und Mitglieder seiner Colorado-Partei vergeben wurden. Nach dem Sturz von General Stroessner und dem Ende der Diktatur wurde dessen Landverteilung zwar als unrechtmäßig bezeichnet, da viele dieser Ländereien aber weiterverkauft wurden, sind bis heute die Eigentumsfragen noch nicht abschließend geklärt worden. Das Thema Landreform gehört zu den ganz heißen Eisen in Paraguay. Fast 20 Prozent des Staatsgebiets - rund ein Drittel der zur Verfügung stehenden Agrarfläche - gehört zu den "tierras mal habitadas". Und in keinem anderen Land der Welt ist Land so ungleich verteilt wie in Paraguay: Rund 80 Prozent des Landes gehören gerade einmal zwei Prozent der Einwohner.
Fernando Lugo, der ehemalige katholische "Bischof der Armen", war 2008 direkt vom Volk zum Präsidenten gewählt worden – nach 61 Jahren ununterbrochener Herrschaft der rechtsgerichteten Colorado-Partei. Er, der sich in die Mitgliederliste der kleinen christdemokratischen Partei Paraguays eingetragen hatte, war 2008 der Kandidat eines heterogenen Parteienbündnisses, der "Allianz für den Wechsel", zu der neben mehreren kleinen linken, alternativen, sozial- und christdemokratischen Parteien und Bewegungen auch die große, etablierte Liberale Partei gehörte. Besonders die vielen armen Kleinbauern und Landlosen wählten Lugo – in der Hoffnung, dass es unter ihm endlich zu einer Landreform und den Aufbau sozialer Sicherungssysteme kommen könnte.
Lugo wurde zwar zum Präsidenten gewählt - die ihm besonders nahe stehenden kleineren Parteien errangen bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen aber nur wenige Sitze. Im Parlament blieb die Colorado-Partei stärkste Kraft, gefolgt von den Liberalen. Colorado und Liberale, beide mit guten Verbindungen zur Wirtschaft, pumpten riesige Beträge in den Wahlkampf und verteilten über ihre vielen bisherigen Abgeordneten Wohltaten und sollen auch Stimmen "gekauft" haben.
Liberale, bis zum Juni dieses Jahres offiziell Koalitionspartner in der Lugo-Regierung, und die Colorados bildeten im Parlament oft eine Art heimliche Große Koalition, wenn es darum ging, auch kleinste Ansätze von Land- und Steuerreform im Keim zu ersticken. Lugo war ein Präsident mit guten Absichten aber ohne Mehrheit im Parlament. Er hatte dort noch nicht einmal eine nennenswerte Hausmacht.
Dennoch gelangen ihm bescheidenen Erfolge im Kampf gegen die extreme Armut und zur Verbesserung des Gesundheitssystems. Sein Umweltminister Oscar Rivas setze sich erfolgreich für geordnete Prüfverfahren (Umweltverträglichkeitsprüfungen) ein, um Entscheidungsgrundlagen zu haben, wenn es um die Zulassung oder Nichtzulassung von gentechnisch verändertem Saatgut oder die Baugenehmigung für Industriebetriebe mit großen Umweltbelastungen ging. Doch in Sachen Landreform kam die Regierung Lugo nicht voran.
Vor einigen Monaten hatte Lugo jedoch angekündigt, die Rückgabe beziehungsweise Neuverteilung der "tierras no habitadas" auf die Agenda zu setzen – ohne allerdings zu wissen, wie er dafür eine Mehrheit im Parlament herstellen sollte.
Eine weitere Hürde ist in Paraguay die Justiz, in der Korruption weit verbreitet ist. In vielen Fällen sollen Urteile käuflich sein. Im Konflikt um die Finka Nummer 9 in Curuguaty gab es juristisch eine völlig unübersichtliche Gemengelage: Einerseits Urteile, die eine Rückgabe des Landes an den Staat vorschrieben und Riquelme Blas als unrechtmäßigen Besitzer bezeichneten, andererseits aber auch Urteile gegen die Kleinbauern, die sogenannten "campesinos", die diese Rückgabe durch die Besetzung und Bebauung des Landes sowie durch Demonstrationen und Straßenblockaden einforderten.
Der Streit eskalierte und am 15. Juni rückten mehr als 300 Polizisten an, um die Campesinos von der Finka Nummer 9 zu vertreiben. Von den ursprünglich mehr als 600 Campesinos, die das Land besetzt und die 2000 Hektar bebaut hatten, blieb nur ein harter Kern von 55 zurück.
Über das, was kurz vor, während und kurz nach den blutigen Zusammenstößen geschah, gibt es sehr widersprüchliche Aussagen. Bei einem Treffen in der kommunalen Radiostation berichteten mir mehrere gewählte Gemeindevertreter, dass es Hardliner auf beiden Seiten gegeben hätte. Zwei Anführer der bis zum Schluss auf der Finka gebliebenen Campesinos hätten sehr autoritär erbitterten Widerstand gegen die Räumung gefordert. Aber auch auf Seiten der Polizei hätte es Scharfmacher gegeben. Und einige erzählten mir, dass viele Journalisten aus Asunción aufgetaucht seien, schon mehrere Stunden bevor die ersten Schüssen gefallen waren.
Wer die ersten Schüsse abgegeben hat? Auch dazu gibt es viele und vor allem widersprüchliche Aussagen: Mitarbeiter der privaten Sicherheitsfirma des Großgrundbesitzers, Campesinos, von wem auch immer angeheuerte unbekannte Scharfschützen… Am Ende sind jedenfalls elf Bauern und sechs Polizisten tot. Es gibt an die hundert Verletzte. Auch aus zwei Polizeihubschraubern heraus sei geschossen worden. Viele Bauern werden verhaftet.
Meine in der kommunalen Radiostation versammelten Gesprächspartner, Vertreter von Kleinbauergewerkschaften sowie gewählte Gemeindevertreter, sind noch immer entsetzt über das Blutvergießen, kritisieren die unverantwortlichen Anführer des harten Kerns der Landbesetzer – einer wurde erschossen, der andere ist verschwunden – ebenso wie den Polizeieinsatz. Alle sind davon überzeugt, dass hier etwas inszeniert, zumindest provoziert wurde – dass es Kräfte gibt, die an einer Eskalation interessiert waren und dies politisch ausgenutzt haben.
Seit den Vorfällen vom 15. Juni sei es viel schwerer geworden, für die Rückgabe der unter General Stroessner unrechtmäßig erworbenen Ländereien an den Staat und die Verteilung an die Kleinbauern und Landlosen zu streiten, meinen meine Gesprächspartner. Die Repressalien gegenüber den Kleinbauern- und Landarbeitergewerkschaften würden zunehmen. Eine Landreform sei wieder in weite Ferne gerückt.
Diese Aussagen meiner Gesprächspartner stehen jedoch im Widerspruch zu Ankündigungen des neuen Präsidenten, Federico Franco, der versprochen hat, die von Lugo in Aussicht gestellte Landreform nicht ad acta zu legen sondern schon bald Land an Kleinbauern und Landlose verteilen zu wollen.
Doch ob den Worten Taten folgen, ist zu bezweifeln. Denn viele von Lugo und seiner Regierung begonnene Reformen wurden vom neuen Machthaber erstmal gestoppt: Ansätze einer Soja-Ausfuhrsteuer, einer Grundsteuer sowie umfangreiche Prüfverfahren vor der Einführung von gentechnisch verändertem Saatgut oder der Ansiedlung von Industriebetrieben mit großen Umweltbelastungen.
Und vor wenigen Tagen kündigte Präsident Federico Franco an, gentechnisch verändertes Saatgut für Mais und Baumwolle per Dekret zulassen zu wollen – mit sofortiger Wirkung und ohne die eigentlich gesetzlich vorgeschriebenen Prüfverfahren. Monsanto und das gesamte Agro-Business jubeln.
Ob man das Turbo-Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Lugo nun als Putsch, kalten Putsch, parlamentarischen Putsch oder als "Besorgnis erregenden Vorgang mit vielen Fragezeichen" bezeichnet (wie die meisten europäischen Diplomaten) – oder ob man es gar für einen ganz normalen Vorgang hält wie ein konstruktives Misstrauensvotum im Deutschen Bundestag: Klar ist, dass die große Mehrheit der paraguayischen Kongressabgeordneten und Senatoren am 22. Juni für die Amtsenthebung gestimmt haben und dass es in der paraguayischen Verfassung ein solches Amtsenthebungsverfahren gibt – allerdings ohne konkrete Durchführungsbestimmungen. Das Tempo des Amtsenthebungsverfahren und die extrem kurze Zeit, die Lugo zur Verteidigung eingeräumt wurden – zwei Stunden – werfen jedoch Fragen auf. Und einen völlig wirren Eindruck macht die Begründung, die für das Amtsenthebungsverfahren angeführt wurde. Da wird zum Beispiel dem ehemaligen katholischen Bischof und Christdemokraten "Aufruf zum Klassenkampf" vorgeworfen, weil er vor drei Jahren ein linkes Jugendzeltlager auf einem ungenutzten Militärgelände zugelassen haben soll. Auch die anderen Gründe wirken an den Haaren herbeigezogen und arg konstruiert.
Berücksichtigt man die wirklichen politischen Konflikte und die ersten Amtshandlungen des neuen de-facto-Präsidenten Federico Franco dann wird deutlich, dass die beiden großen etablierten Parteien diesen Präsidenten und seine Politik einfach weghaben und dem Agrobusiness – von den Großgrundbesitzern bis zu Monsanto und den anderen im Agrargeschäft tätigen transnationalen Konzernen – wieder freie Bahn verschaffen wollten.
Die Mehrheit der Liberalen hatten 2008 den populären "Bischof der Armen" eh nur als Koalitionspartner und Präsidentschaftskandidaten (aus)genutzt, um endlich mal den Colorados, die seit 61 Jahren herrschten, eine Wahlniederlage beizubringen. Die Koalition zwischen den Liberalen und den kleineren Parteien, die Lugo nahestehen, stand von Anfang an unter keinem guten Stern und erwies sich als brüchig.
Alles also nur ein Koalitionsbruch? Nein, denn Lugo ist mit seiner Agenda direkt vom Volk gewählt worden. Dass er aus machtpolitischen Gründen von einer – wenn auch großen – Parlamentsmehrheit abgewählt werden kann und wurde, offenbart einen Konstruktionsfehler in der paraguayischen Verfassung.
Besonders die Liberalen versprachen sich vom Koalitionsbruch und der Amtsenthebung Lugos eine bessere Ausgangsposition für die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die im April 2013 anstehen. Möglicherweise haben sie sich verkalkuliert. Denn mit den heftigen Reaktionen der Nachbarstaaten – Brasilien und Argentinien sprachen mehr oder weniger von einem Putsch, zogen ihre Botschafter ab und verweigerten dem neuen Präsidenten die Anerkennung – hatten sie ebenso wenig gerechnet wie mit dem Ausschluss Paraguays aus dem Wirtschaftsbündnis Mercosur, dem Staatenbündnis UNASUR und dem Parlatino, dem lateinamerikanischen Parlament.
Ob es bei den nächsten Wahlen eine Trotzreaktion geben wird und das Lugo wohl gesonnene Mitte-Links-Bündnis "Frente Geasu" und deren (wahrscheinlicher) Präsidentschaftskandidat Mario Ferreiro gewinnt – oder ob eher die rechte Colorado-Partei vom Bruch der Koalition profitieren wird und deren (wahrscheinlicher) Kandidat Horatio Cartes das Rennen macht, lässt sich schwer vorhersagen.
Würde Letzteres eintreten, was aufgrund der Millionenbeträge, die der Unternehmer Cartes und die ihn unterstützenden Kreise in Wahlkampf und Stimmenkauf investieren leider nicht auszuschließen ist, dann wäre die Rolle rückwärts in Paraguay perfekt.