Paraguay: Die Rolle rückwärts?
Thilo Hoppe/Michael Alvarez Kalverkamp
Vom 19.-23. August besuchte eine offizielle Delegation des Bundestagsausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Paraguay. Die bereits vor Absetzung des Präsidenten Lugo geplante Reise begutachtete aufgrund der aktuellen Ereignisse aber nicht nur Projekte der deutsch-paraguayischen Entwicklungszusammenarbeit, sondern nutzte die Reise auch, um mehr über die Hintergründe des dubiosen Machtwechsels zu erfahren, der sich am 22. Juni in Asunción abgespielt hatte und von mehreren lateinamerikanischen Staaten als "kalter Putsch" bezeichnet worden war. Auf dem Programm der Reise standen deshalb neben Projektbesuchen auch Gespräche mit Menschenrechtsaktivist/innen sowie Vertreter/innen der neuen und der abgesetzten Regierung.
Thilo Hoppe (Bündnis 90/Die Grünen) reiste anschließend nicht wie seine Kollegen von CDU, SPD und FDP nach Uruguay und Brasilien weiter, sondern blieb zu einem vom Cono-Sur-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung organisierten Programm zwei Tage länger in Paraguay. In diesem Rahmen nahm er auch an einem Seminar in der Konfliktregion um Curuguaty teil, in der im Juni bei einem Kampf um ein besetztes Land elf Bauern und sechs Polizisten ums Leben gekommen waren. Im Interview mit Michael Alvarez Kalverkamp analysiert Thilo Hoppe die aktuelle Lage in Paraguay sowie die Hintergründe des Absetzungsverfahrens.
Alvarez Kalverkamp: Zum Zeitpunkt Eurer Reise lag die Amtsenthebung von Präsident Fernando Lugo bereits knapp zwei Monate zurück. Die aktuelle Regierung unter dem liberalen Präsidenten Federico Franco wie auch einige Experten vor allem in Europa und den USA bemühen sich, einen Eindruck absoluter Normalität zu vermitteln – wie schätzt Du die Lage in Paraguay insgesamt ein, vor allem im Vergleich zu Deinem letzten Besuch dort 2008 kurz nach den Wahlen?
Hoppe: Von Normalität kann nicht gesprochen werden, auch wenn es keinen Aufruhr gibt. Klar – diejenigen, die das dubiose Amtsenthebungsverfahren geplant und durchgezogen haben, wollen den Anschein erwecken, dass es sich um einen ganz normalen parlamentarischen Vorgang gehandelt hat und inzwischen wieder Ruhe eingekehrt ist. Aufgrund der recht heftigen Reaktionen der Nachbarstaaten und der großen Mehrheit der lateinamerikanischen Länder – Paraguay wurde sowohl aus dem Staatenbündnis UNASUR als auch aus dem Wirtschaftsbündnis MERCOSUR und dem lateinamerikanischen Parlament PARLATINO ausgeschlossen – sind die neuen Machthaber aber nervös und befürchten wirtschaftliche Nachteile. Soweit ich das beurteilen kann, herrscht bei denjenigen, die mit viel Euphorie und hohen Erwartungen 2008 Fernando Lugo zum Präsidenten gewählt haben, eine Mischung aus Frustration und Wut. Massendemonstrationen gibt es nicht. Viele sind einfach nur enttäuscht und ratlos.
Wie schätzt Du nach den Gesprächen mit den offiziellen Vertretern der aktuellen Regierung Franco und dem Treffen mit Ex-Präsident Lugo und dessen Umweltminister Oscar Rivas die politischen und ideologischen Ursachen des Amtsenthebungsverfahrens ein? War das Amtsenthebungsverfahren ein normaler parlamentarischer Vorgang oder geht es hier auch um eine politische Richtungsentscheidung für das Land?
Es wird ja viel darüber gestritten, ob man die Ereignisse des 22. Junis nun als Putsch, kalten Putsch, parlamentarischen Putsch, zweifelhaftes Amtsenthebungsverfahren oder gar als ganz normales Misstrauensvotum bezeichnen soll. Meines Erachtens würde das Wort Putsch einen falschen Eindruck erwecken. Das Militär war ja nicht beteiligt und es sind auch keine aus dem Amt entfernten Politiker inhaftiert oder ins Exil geschickt worden. Aber genauso wenig kann hier von einem normalen Misstrauensvotum gesprochen werden – so wie es das zum Beispiel in Deutschland gibt. Der Vergleich würde passen, wenn Lugo wie die Bundeskanzlerin vom Parlament gewählt worden wäre. Lugo ist aber 2008 mit deutlicher Mehrheit direkt vom Volk zum Präsidenten gewählt worden. Dass das Parlament ihn nun im Rahmen eines dubiosen Amtsenthebungsverfahrens abgesetzt hat, einfach weil ihm die Politik Lugos nicht passt, wirft viele Fragen auf und offenbart auch einen Konstruktionsfehler der paraguayischen Verfassung. Francois Hollande könnte ja auch nicht einfach vom französischen Parlament abgesetzt werden, wenn dort einer bürgerlichen Mehrheit die Politik des sozialistischen Präsidenten nicht mehr passen würde.
Die Gründe, die im Amtsenthebungsverfahren gegen Fernando Lugo angeführt – ich würde sagen: konstruiert wurden, sind hanebüchen. Hier ging es im Grunde genommen nicht um irgendwelche Verfehlungen des Präsidenten oder – wie behauptet – um seine Unfähigkeit, sondern um pure Machtpolitik. Auf der einen Seite diejenigen, die vom status quo – extrem ungleiche Landverteilung, Ausrichtung der Landwirtschaft auf den Export von Soja und Rindfleisch, lächerlich geringe Steuersätze – profitieren und ihn verteidigen, auf der anderen Seite diejenigen, die daran etwas ändern wollen, aber schon für behutsame Reformen in Richtung soziale-ökologische Marktwirtschaft als Genossen von Chavez und Castro diffamiert werden.
Bezeichnend ist ja auch, dass vom neuen de-facto-Präsidenten Federico Franco Gen-Mais und Gen-Baumwolle ganz schnell per Dekret zugelassen wurden – an allen gesetzlich vorgeschriebenen Prüfverfahren vorbei. Bei Monsanto dürften die Sektkorken geknallt haben.
Auf einem Workshop des Cono-Sur-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in der ländlichen Konfliktregion um die Stadt Curuguaty konntest Du mit Vertretern von Kleinbauernorganisationen und gewählten Gemeindevertretern sprechen. Wie stellen sich Dir nach dem Besuch in der Region die konkreten Ereignisse um das Massaker dar, das die Absetzung Lugos auslöste? Kann man tatsächlich von einer politischen Verantwortung Präsident Lugos sprechen?
Ich kann nicht ausschließen, dass Lugo auch Fehler gemacht hat. Aber es ist Unsinn, ihn für die Eskalation der Gewalt in Curuguaty und die elf Todesopfer verantwortlich zu machen. Die Gemeindevertreter und Campesinos, mit denen ich gesprochen habe, sind sogar der Meinung, dass der Gewaltausbruch von denjenigen Kräften inszeniert oder zumindest provoziert wurde, die einen weiteren Vorwand für ein Amtsenthebungsverfahren gegenüber Lugo suchten. Ob das stimmt oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Aber viele Details, die mir geschildert wurden, machen schon stutzig. So sollen mehrere Pressevertreter schon gesichtet worden sein, bevor die ersten Schüsse gefallen waren.
Von einigen Experten, vor allem in Deutschland, wird das Procedere der Absetzung als "Amtsenthebungsverfahren" bezeichnet, dass nicht nur verfassungskonform durchgeführt worden sei, sondern sogar als Ausdruck einer Tendenz zur "Parlamentarisierung" der Präsidialdemokratien interpretiert wird – also eher positiv als Stärkung des Parlamentarismus. Ist dies auch Dein Eindruck?
Nein, überhaupt nicht! Wenn ein Präsident seine Kompetenzen weit überschreitet, nachweislich die Verfassung bricht oder eine andere Straftat begeht, sollte ihn das Parlament – im Zusammenspiel mit einem Gericht – in die Schranken verweisen oder auch absetzen können. Wenn aber ein direkt vom Volk gewählter Präsident unter fadenscheinigen Gründen vom Parlament abgesetzt wird, weil dem Parlament die Politik nicht passt, für die der Präsident gewählt wurde, dann stimmt etwas nicht.
Wo liegen denn die strukturellen Ursachen für den aktuellen Konflikt und das Amtsenthebungsverfahren?
Fernando Lugo ist 2008 gewählt worden – vor allem mit den Stimmen der Armen. Sie hatten gehofft, dass der ehemalige katholische Bischof das Hauptproblem Paraguays anpackt: die extrem ungleiche Landverteilung. Rund 80 Prozent des Landes gehören zwei Prozent der Einwohner. Das ist Weltrekord! Paraguay hat auch die niedrigsten Steuersätze Amerikas und deshalb auch so gut wie keine sozialen Sicherungssysteme. Rund ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und hat nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Paraguay ist gleichzeitig das Eldorado der großen Soja- und Rinderzüchter und transnationaler Unternehmen des Agro-Business. Da sind Konflikte vorprogrammiert, wenn ein Präsident gewählt wird, auf dessen Agenda Landreform, Steuerreform sowie Sozial- und Umweltpolitik stehen.
Wie gesagt, Lugo war und ist kein Revolutionär, sondern hat politische Vorstellungen, die in Deutschland zum politischen Konsens gehören, den alle demokratische Parteien unterschreiben würden: soziale und ökologische Marktwirtschaft. In einem Land, in dem aber zuvor 61 Jahre lang die Colorado-Partei geherrscht hat – darunter fiel auch die finstere Zeit des Generals Alfredo Stroessner – und in der auch die zweite große etablierte Partei, die Liberalen, im Grunde genommen unter Freiheit die Freiheit der wenigen Wohlhabenden verstehen, sich aber mit viel Geld dennoch Wahlerfolge sichern, gilt eine Sozial- und Umweltpolitik à la CDU schon als linksradikal.
Lugos Hauptproblem war, dass er als katholischer Bischof, als der Bischof der Armen, zwar großes Ansehen im Volke hatte, aber über keine Hausmacht verfügte, also nicht den Rückhalt einer politischen Partei genoss. Die kleinen alternativen, sozial-, christdemokratischen und linken Parteien und Bewegungen, die sich Lugo verbunden fühlten, verfügten nicht über die notwendige Infrastruktur und hatten auch wenig Geld, um den großen etablierten Parteien bei den Parlaments- und Senatswahlen Paroli bieten zu können. Von Anfang an hatte der Präsident keine Mehrheit in den beiden Häusern des Parlaments, um seine Reformagenda vorantreiben zu können. Und von Anfang an drohte das Parlament ihm mit einem Amtsenthebungsverfahren, wenn er die strukturellen Probleme des Landes anpacken wollte.
Zwischen den direkten Reaktionen der Regierungen in der Region und deren aktuellen Positionen zum Konflikt in Paraguay und den Reaktionen und Positionierungen in Deutschland und Europa zeigen sich erstaunliche Divergenzen. Wo sind diese zu verorten und wie schätzt Du sie ein? Wie sollten sich Deutschland und Europa positionieren?
Die Europäische Union und Deutschland halten sich ja nach wie vor sehr zurück und haben den neuen de-facto-Präsidenten Federico Franco nicht anerkannt. Entwicklungsminister Niebel, der wenige Stunden nach dem dubiosen Amtsenthebungsverfahren Franco die Hand schüttelte und in die Mikrofone sprach, hier sei allem Anschein nach alles mit rechten Dingen zugegangen, wurde ja kurz danach von Westerwelle zurückgepfiffen. Die EU und auch die Bundesrepublik sind zurzeit in einer Art abwartenden Position. Weder Anerkennung für Franco, aber auch keine lautstarken Verurteilungen der Vorgänge vom 22. Juni. Man hangelt sich so durch bis zu den Wahlen im April und hofft, danach wieder zur Tagesordnung übergehen zu können.
Viele Regierungen in Lateinamerika fühlen sich hingegen sehr an das erinnert, was sich 2009 in Honduras abspielte. Das war eindeutig ein Putsch, dem aber auch ein demokratisches Mäntelchen umgehängt werden sollte. Mit einem manipulierten Gerichtsurteil und einer Parlamentsmehrheit wurde versucht, den lange zuvor geplanten Coup als rechtmäßig darzustellen. Obwohl es sich in Honduras um ein anderes Kaliber handelte, gibt es doch einige Parallelen. Lateinamerika hatte geglaubt, die schreckliche Zeit der Putsche hinter sich zu haben. Honduras war eine bittere Erfahrung. Und das, was sich am 22. Juni in Paraguay abspielte, rief Erinnerungen wach. Deshalb hat man sehr sensibel reagiert und zum Teil vielleicht auch etwas überreagiert. Andererseits empfinde ich manche Reaktion – beziehungsweise Nicht-Reaktionen – aus Europa und Deutschland als eine Art Wegducken. Zumindest sollten die EU und Deutschland Wahlbeobachter schicken, schon jetzt, und sehr genau hinschauen, dass bei den Wahlen im April und im Vorfeld der Wahlen demokratische Spielregeln eingehalten werden.
Zum Ende Deines Besuches konntest Du Dich auch mit Mario Ferreiro, einem bekannten Journalisten und potentiellen/wahrscheinlichen Kandidaten des Lugo-Bündnisses Frente Guasú für die Präsidentschaftswahlen im April 2013 treffen. Ist der Frente Guasú mit Ferreiro programmatisch und personell gut aufgestellt, hat das Bündnis aus seinen Fehlern und Problemen gelernt und eine reelle Chance in den kommenden Wahlen? Was sind die dringendsten Probleme Paraguays, die jede Regierung auf ihre politische Agenda setzen muss?
Die Herausforderungen hatte bereits 2008 Fernando Lugo richtig erkannt und benannt. Damals wurde aber alle Energie in den Präsidentschaftswahlkampf gesteckt und versäumt, ein breites Bündnis aufzubauen, das Lugos Reformagenda auch im Parlament und im Senat unterstützt und vorantreibt. Höchst wahrscheinlich wird Mario Ferreiro der Präsidentschaftskandidat der Frente Guasú. Lugo unterstützt ihn. Es kommt jetzt darauf an, sowohl für Mario Ferreiro ein breites Bündnis zu schmieden als auch sich für die Kongress- und Senatswahlen gut aufzustellen. Diejenigen, die wirklich eine Land- und Steuerreform sowie ehrliche Sozial- und Umweltpolitik wollen, müssen kompromissbereit sein und sich wirklich zu einem breiten Bündnis zusammenschließen, in dem Kleinbauernorganisationen, Gewerkschaften, Christdemokraten, Sozialliberale, Sozialdemokraten, Sozialisten, Grüne, Umweltverbände, Menschenrechtsaktivist/innen und kirchlich orientierte Gruppen zusammenarbeiten. Die Zersplitterung und ideologische Grabenkämpfe müssen aufhören. Denn nur ein wirklich breites Bündnis hätte eine Chance, den großen etablierten Parteien, die riesige Geldbeträge in den Wahlkampf stecken und indirekt Stimmen kaufen, Paroli zu bieten.
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Michael Alvarez Kalverkamp ist Leiter des Büros Cono Sur der Heinrich-Böll-Stiftung in Santiago de Chile.
Hinweis: Unter dem Titel "Eine andere Partnerschaft ist möglich" findet am 10. November im Paul-Löbe-Haus des Bundestages eine Lateinamerika-Konferenz der Grünen statt, an der Oscar Rivas, ehem. Umweltminister der Regierung Lugo, teilnehmen wird. Zur Veranstaltung.