Wo bleibt der Kurswechsel im Kampf gegen den Hunger?!
Wenn jetzt in New York bezüglich der Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele (MDG) Bilanz gezogen wird, dann ist von Licht und Schatten die Rede, von vielen Teilerfolgen, die aber nicht ausreichen, um im vereinbarten Zeitplan zu bleiben. Für die meisten Entwicklungsziele gilt: Ja, es geht voran – aber viel zu langsam.
Schaut man sich die Ziele und die Zwischenergebnisse genauer an, dann fällt auf, dass im MDG Nr. 1 zwei unterschiedliche Ziele zusammengefasst werden und die Fieberkurven für Ziel 1A und Ziel 1B in ganz verschiedene Richtungen führen.
Während es bei der Halbierung der extrem Armen durchaus Fortschritte gibt, ist die Zahl der Hungernden in den letzten Jahren sogar noch gestiegen. Die Explosion der Nahrungsmittelpreise hat den Negativtrend erheblich verstärkt. Ein Ende der Entwicklung ist nicht in Sicht. Vor kurzem musste die Welternährungsorganisationen die Zahl der bedrohlich chronisch unterernährten Menschen von 850 auf 925 Millionen nach oben "korrigieren".
Ökonomen reiben sich die Augen und können nicht fassen, dass im gleichen Land die Zahl der (finanziell gesehen) Armen sinkt und die Zahl der (bezüglich der Kalorien- und Nährstoffversorgung gemessenen) Hungernden steigt. Dahinter steckt eine immer noch weit verbreitete Wachstumseuphorie und Trickle-Down-Effekt-Gläubigkeit sowie der Irrtum, dass eine geringere Armutsrate automatisch zu einer verbesserten Ernährungssituation führt. Die Schnittmenge zwischen Armen und Hungernden ist zwar groß aber nicht hundertprozentig, denn nicht jeder Arme hungert.
Schauen wir uns zum Beispiel die Entwicklung im Bergbausektor Ghanas an, dann sehen wir einerseits wirtschaftliche Erfolge aufgrund des Goldbooms, durchaus verbunden mit neuen Jobs, gestiegenen Löhnen und daher auch Erfolgen in der Armutsbekämpfung. Gleichzeitig sind aber durch Zwangsumsiedlungen und die Zyanid-Verseuchung von Flüssen und Seen Hunderttausende von Kleinbauern und Fischern ihrer Existenzgrundlage beraubt worden. Da sie Subsistenzwirtschaft betrieben und kaum finanzielle Einkommen hatten, galten sie statistisch gesehen als "extrem arm", konnten sich aber von ihrer Hände Arbeit selbst ernähren. Da ihnen jetzt Zugang zu Land und zu Fischgründen verwehrt wird und nur ein Bruchteil von ihnen Arbeit im Bergbau findet, sind viele dieser Bauern und Fischer nun Hungerleider geworden.
Zugegeben, das Beispiel ist stark vereinfacht. Und dennoch ist dieser Trend in sehr vielen Entwicklungsländern zu beobachten: Gerade wenn es sich lohnt, mehr Gold aus der Erde zu holen, mehr Soja für den Export von Viehfutter oder mehr Ölpalmen für die Gewinnung von Agrotreibstoff anzubauen, jagen Großinvestoren Kleinbauern von ihren Feldern – oft mit Hilfe "gekaufter" Eigentumstitel und angeheuerter Privatpolizei. Einige Reiche werden noch reicher. Und die neuen Jobs und Einkommensmöglichkeiten im Bergbau, auf den Großplantagen und in der industriellen Shrimpszucht wiegen nicht auf, was an neuem Hungerelend unter den verdrängten Kleinbauern und Fischern entsteht.
Solche Entwicklungen sind kein Naturgesetz sondern Folge von Politikversagen und skrupellosen Machenschaften nationaler und internationaler Investoren. Selbstverständlich müssen Erfolge im Bergbau oder in der exportorientierten Plantagenwirtschaft, Shrimps- und Fischzucht nicht auf Kosten der Kleinbauern und Fischer gehen. Alle Sektoren könnten einander beflügeln und befruchten, wenn beispielsweise die von 181 Staaten dieser Welt ratifizierten Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung tatsächlich respektiert und implementiert werden würden und wenn es in den vom Hunger betroffenen Ländern so etwas wie Raumplanung und Katasterwesen sowie funktionierende Steuer- und Sozialsysteme gäbe.
Ich will keineswegs einem romantisierenden Bild von kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft das Wort reden, wohl aber mit Nachdruck darauf hinweisen, dass die Rolle der Kleinbauern für die Ernährungssicherheit in den letzten Jahren schwer unterschätzt und ihre gezielte Förderung sträflich vernachlässigt wurde – sowohl von den Regierungen der betroffenen Ländern als auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit.
Das deutsche Entwicklungsministerium ist hier keine Ausnahme. In einigen seiner Strategiepapiere gelten Kleinbauern gar als Entwicklungshemmnis , weil sehr einseitig der exportorientierten Agrarwirtschaft das Wort geredet wird.
Auch unter Rot-Grün gelang es uns nicht, den großen Koalitionspartner davon zu überzeugen, einer an den Bedürfnissen der Kleinbauern orientierten ländlichen Entwicklung einen größeren Stellenwert einzuräumen.
In der großen Koalition hat sich das kaum geändert. Gerade einmal drei Prozent der Mittel für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit gehen zur Zeit in den Agrarsektor und nur ein kleiner Teil dieser ohnehin schon geringen Mittel kommen bei den verletzlichsten Gruppen an.
Erst als zu Beginn dieses Jahres die Welternährungskrise in die Hauptnachrichten und auf die Titelseiten kam, waren auf internationaler Bühne und seitens der Bundesregierung neue Töne zu hören.
Auf dem Welternährungsgipfel in Rom betonte Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul erstmals die Bedeutung der Kleinbauern für die Ernährungssicherheit und kündigte an, 500 Millionen Euro aus dem Entwicklungsetat umzuschichten und in den Agrarsektor zu stecken.
Ähnlich Zusagen machten auf Drängen der VN-Hunger-Task-Force auch zahlreiche andere Gebernationen. Doch noch nicht einmal die Hälfte der in Rom gemachten Zusagen wurden bisher eingehalten. Die von Sarkozy in Rom versprochene zusätzliche Milliarde hat sich inzwischen fast vollständig in Luft aufgelöst. Und die von EU-Kommissionspräsident Barroso in Aussicht weiteren Milliarde – nicht benötigte Mittel aus dem EU-Agrarhaushalt - sollten in die ländliche Entwicklung der vom Hunger betroffenen Länder fließen – wird am heftigsten von Horst Seehofer und Peer Steinbrück blockiert.
Gehen beide Milliardenbeträge Flöten, dann wird sich der Welternährungsgipfel von Rom im Nachhinein als zynisches Theater entpuppen. Die VN-Hunger-Task-Force ist schon dabei, die Einhaltung versprochener Mittel aus den Staatshaushalten abzuschreiben und mehr Mittel aus der Privatwirtschaft zu akquirieren.
Doch dies ist mit Problemen anderer Art verbunden. Transnationale Düngemittel-und Saatzuchtkonzerne – allen voran Monsanto – geben viel Geld aber wollen dafür auch die Agenda bestimmen. Die "Errungenschaften" der agroindustriellen Landwirtschaft – Stickstoffdünger, Pestizide, Insektizide und gentechnisch verändertes Saatgut – sollen nun auch den Kleinbauern zu Gute kommen – ungeachtet der Tatsache, dass durch Übernutzung und Überdüngung heute schon viele Böden ausgelaugt sind und der angepriesen Gentech-Chemo-Mix teuer ist, viele Folgekosten hat, zu Lasten der biologischen Vielfalt und der Lebensmittelsicherheit geht und die große Gefahr in sich birgt, die Kleinbauern in die Schuldenfalle zu treiben.
Dringend nötig ist hingegen eine Entwicklungs- und Agrarstrategie, wie sie 400 Wissenschaftler und Praktiker aus allen Teilen der Welt im IAASTD-Report (International Assessment on Agricultural Science and Technology for Development) – von uns Grünen etwas gewagt als VN-Weltagrarberichtet bezeichnet– vorgelegt haben: Kleinbauern in den von Hunger betroffenen Ländern brauchen gezielte Unterstützung (Zugang zu Land, Wasser, Saatgut, Kleinkrediten, Agrarberatung etc.), um auf nachhaltige, die natürlichen Ressourcen schonende Weise, mehr Grundnahrungsmittel für lokale und regionale Märkte herzustellen. Die Autoren rechnen vor, dass theoretisch genügend Flächen vorhanden sind, um den weltweiten Nahrungsmittelbedarf zu decken – durch bäuerliche Landwirtschaft in den vom Hunger betroffenen Ländern.
Eines der größten Entwicklungshemmnisse ist die ungleiche, ungerechte Landverteilung. In Paraguay zum Beispiel gehören den wenigen Großgrundbesitzern – 1,5 Prozent der Bevölkerung – fast 80 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Ohne eine Agrarreform, die bereit ist, auch dieses heiße Eisen anzupacken, wird es keine Erfolge in der Hungerbekämpfung geben. Paraguays neuer Präsident Fernando Lugo will sich dieser Herausforderung stellen. Es wäre lohnenswert, ihn auch im Rahmen der bi- und multilateralen Entwicklungszuammenarbeit darin zu unterstützen.
Eine in quantitativer und qualitativer Hinsicht verbesserte Entwicklungszusammenarbeit ist ein wichtiger Schritt zur Erreichung der Millenniumsziele – aber nur einer. Den größten Schritt müssen aber die Länder machen, in denen die MDG noch nicht erreicht sind. Bezüglich der Halbierung des Hungers hieße dies zum Beispiel für mehrere Staaten Afrikas, dass sie endlich umzusetzen, was sie auf einer Konferenz in Maputo versprochen haben: mindestens zehn Prozent ihrer Haushaltsmittel in die Förderung einer nachhaltigen landwirtschaftlichen Entwicklung zu stecken.
Die VN-Hunger-Task-Force schlägt ein internationales 10-zu-10-Abkommen vor: Zehn Prozent der Haushaltsmittel der vom Hunger betroffenen Länder und zehn Prozent der Entwicklungshilfemittel der Geberländer gehen in den Agrarsektor.
Aber diese Schritte können nur dann zum Erfolg führen, wenn sie von Entscheidungen in der Agrar-, Handels-, Finanz- und Wirtschaftspolitik flankiert und nicht konterkariert werden. Was nützt es, Kleinbauern in Westafrika zu fördern, wenn ihre Märkte immer wieder von Dumpingfluten – Importe aus hoch subventionierter Überschussproduktion der EU und der USA – überschwemmt und zerstört werden?
Dringend notwendig ist es auch, international verbindliche Nachhaltigkeits- und Menschenrechtsstandards für die gesamte Agrarproduktion – von Biotreibstoffen über Futtermittel bis zu Kaffee und Baumwolle – zu vereinbaren. Eine Herkulesaufgabe, bei der Erfolge noch nicht in Sicht sind.
Um das wichtigste MDG-Ziel, die Zahl der Hungernden zu halbieren, zu erreichen, bedarf es einer konzertierten Aktion der Staatengemeinschaft und eines kohärenten Politikansatzes, der nicht nur die Entwicklungs- und Agrarpolitik umfasst sondern ebenso auf gerechten Handel und die Eindämmung der Spekulation setzt.
Der IAASTD-Bericht und die Zwischenergebnisse der Hunger-Task-Force der VN zeigen den Weg auf: Anstatt sich auf ein paar Umschichtungen im Haushalt zu begnügen und dann wieder zum "business as usual" überzugehen, sollte die Bundesregierung die Forderungen und Empfehlungen aus diesen Dokumenten aufgreifen und die im wahrsten Sinne des Wortes NOTwendigen Kurskorrekturen vornehmen – in allen für die Erreichung der Millenniumsziele relevanten Politikbereichen.
Thilo Hoppe