Zwei Monate vor Rio: Brasilien im Rückwärtsgang
Die dritte Nachfolgekonferenz des sogenannten Erdgipfels 1992 droht durch die Politik des Gastgeberlandes bereits im Voraus bedeutend an Kraft einzubüßen. Während vor 20 Jahren in Rio der Begriff der Nachhaltigkeit in die entwicklungspolitische Debatte eingeführt und Brasilien international als eine der progressivsten Kräfte im Bereich des Klimaschutzes wahrgenommen wurde, droht ein neues Waldgesetz (Código Florestal), das gestern Abend vom brasilianischen Parlament verabschiedet wurde, bisherige Fortschritte umzukehren.
Der Gesetzentwurf war Mitte März vom Senat mit einigen, in der Tendenz klimafreundlicheren, Änderungen des Initialbeschlusses an das brasilianische Parlament zur erneuten Beschlussfassung verwiesen worden. Sofort legte aber der zuständige Berichterstatter Paulo Piau (Partei der demokratischen Bewegung - Partido do Movimento Democrático Brasileiro, PMDB), erneut einen Gegenentwurf vor. Nach nochmaligen Debatten haben gestern Abend die Parlamentarier mit einer Mehrheit von 274 zu 174 Stimmen die klimapolitisch katastrophale Fassung von Piau verabschiedet.
Die endgültige Ratifizierung der Gesetzesänderung hätte verheerende Folgen für den Klimaschutz. Internationaler Protest forderte deshalb bereits zu Anfang des Jahres die Regierung Rousseff dazu auf, ihr Veto einzulegen. Auch wir Grünen im Bundestag haben u.a. durch Briefe an die Präsidentin diesen Widerstand unterstützt und hoffen auf ihre Kompromissbereitschaft. Brasiliens Wachstumskurs sollte nicht zu Lasten des Klimas und des Waldes sowie seiner Bewohnerinnen und Bewohner betrieben werden. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Präsidentin Farbe bekennen und eine grundlegende Entscheidung für Brasiliens zukünftige Klimapolitik fällen muss.
Schon vor seiner Verabschiedung hat das Waldgesetzes schwerwiegende Folgen
Durch die Gesetzesänderung wird über die Freisetzung zur Abholzung von 76,5 Millionen Hektar Wald entschieden. Vorgesehene Grünflächen bei der zukünftigen städtischen Erweiterung werden gestrichen, anvisierte Passagen über Kreditverbote für Agrarproduzenten, die gegen Umweltauflagen verstoßen, gekürzt. Besonders brisant: in der Gesetzesvorlage sind Amnestien für alle illegalen Abholzungen vor Juli 2008 vorgesehen.
Bereits die Diskussion um diese dramatischen Änderungen in der Klimapolitik hat im ersten Quartal des Jahres 2012 dazu geführt, dass sich die illegale Abholzung in Brasilien verdreifachte. Allein die Amazonasregion verlor laut dem brasilianischen Institut für Weltraumforschung (Inpe) in diesem Jahr eine Fläche von 388 Quadratkilometern Regenwald. Die brasilianische Umweltministerin Izabella Teixeira konstatiert in diesem Zusammenhang: „Noch haben wir keine Erklärung für die Zunahme der Abholzung, doch wissen wir, dass es Leute gibt, die glauben, dass sie am Ende amnestiert werden“.
Dabei schienen die klimapolitischen Entwicklungen in Brasilien bisher beispielhaft: Vom August 2010 bis Juli 2011 sank die Entwaldungsrate um 11,7 Prozent, dem besten Ergebnis seit der Implementierung von Satellitenkontrollen 1988. Laut Greenpeace sind diese Verdienste vor allem der Strenge des bisherigen Waldgesetzes zuzuschreiben. Rau Silva Telles do Valle vom Soziologischen Institut konstatiert diesbezüglich: "Die Roussef-Regierung ist die erste, die nicht nur keine neuen Schutzgebiete schafft, sondern sie sogar verkleinert".
Die Politik der brasilianischen Regierung im Licht der Rio+20 Konferenz
Die Regierung Dilma Rousseff ist sich darüber im Klaren, dass die internationale Gemeinschaft auf die Neuerungen im Waldgesetz sehr kritisch reagieren wird. Eine endgültige Ratifizierung der brisanten Änderungen durch ihre Unterschrift ist daher vor der Rio-Konferenz unwahrscheinlich. Gleichzeitig ist fraglich, ob die Präsidentin die Stärke besitzt, um den Befürwortern des neuen Gesetzes, der einflussreichen Agrarlobby, ihren Wunsch abzuschlagen. Verschiedene NGOs prophezeien daher ein Spiel auf Zeit: Die Präsidentin könnte nach der positiven Abstimmung des Abgeordnetenhauses über den vom Senat gesandten Text ein präsidentielles Veto gegen besonders kritische Passagen, wie etwa die Gewährung von Amnestien für illegale Abholzungen, einlegen. Der bürokratische Prozess würde sich in diesem Fall über die Rio-Konferenz hinweg verlängern und der Präsidentin weiterhin die Möglichkeit geben, auf die Verdienste der brasilianischen Klimapolitik vergangener Legislaturperioden zu verweisen und gleichzeitig die signifikanten Rückschritte während ihrer Amtszeit zu verschweigen. Nach Beendigung der dritten Nachfolgekonferenz in Rio im Juni könnte der Kongress das präsidentielle Veto schließlich überstimmen und der Verabschiedung des Waldgesetzes somit nichts mehr im Weg stehen.
Neue Entwicklungsprioritäten der Rousseff-Regierung
Die ehemalige Umweltministerin Marina Silva erklärt mit Blick auf diese Entwicklungen: "Unter der Regierung von Dilma Rousseff gibt es in der brasilianischen Umweltpolitik erstmals seit 20 Jahren Rückschritte.“ Das Waldgesetz schränke „auf allen Ebenen den Schutz der Umwelt ein, erlaubt Abholzung in geschützten Gebieten und belohnt sogar noch diejenigen, die abgeholzt haben“.
Die Rousseff-Regierung setzt auf Wachstum. Der Erfolg ist bekannt: Die brasilianische Ökonomie ist laut KPMG mit einer Steigerung von 7,5 Prozent im Jahr 2010 die sechstgrößte Wirtschaftskraft der Welt und hat damit überholt. Dabei baut die Präsidentin entwicklungspolitisch vor allem auf Mega-Projekte wie Riesenstaudämme, Wasser- und Atomkraftwerke. Klimapolitische Ziele wie der Waldschutz und die damit einhergehende Unterstützung von Ureinwohnern werden dabei vernachlässigt oder sogar unterwandert.
Auch die sich in den vergangenen Jahren dramatisch zuspitzende Landnahme durch Großinvestoren und die damit einhergehende gewalttätige Vertreibung indigener Völker bereitet brasilianischen NGOs Sorgen. Wie wir in vorherigen Pressemitteilungen kritisierten, häufen sich Fälle wie die brutale Ermordung des Guaraní-Kaiowá Führers Nisio Gomes als Antwort auf die Resistenz seiner Gemeinschaft gegen illegale Vertreibung. Ein neues Waldgesetz könnte das enorme Unrecht, das den indigenen Stämmen in den letzten Jahren angetan wurde, ex-post legitimieren und somit auch in Zukunft fördern.
Es bleibt zu hoffen, dass die internationale Empörung die brasilianische Regierung zur Einlenkung bewegt. Brasilien hat wie wenige andere Länder die Möglichkeit sich zu einem glaubhaften Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel zu entwickeln. Die Verdienste der vergangenen 20 Jahre seit der ersten Rio-Konferenz in Verbindung mit einem positiven Signal im Rahmen des Waldgesetzes könnten den politischen Einfluss des südamerikanischen Riesen langfristig positiv beeinflussen. Die nächsten Wochen werden zeigen, für welche Strategie sich die Rousseff-Regierung entscheidet. Deutschland muss durch eigene Leistungen im Klimaschutz deutlich machen, dass es sich als Partner für Brasilien im Kampf gegen den Klimawandel anbietet.