Nahost: Aus dem Teufelskreis der Gewalt aussteigen
Zu den Äußerungen der Bundestagsabgeordneten Gitta Connemann (CDU) und verschiedener Repräsentanten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Ostfriesland zur Eskalation des Nahost-Konflikts erklärt MdB Thilo Hoppe aus Aurich (Bündnis 90/Die Grünen), Vorsitzender des Entwicklungsausschusses des Deutschen Bundestages:
Es ist richtig, auf die fürchterliche Bedrohung der israelischen Bevölkerung hinzuweisen: Mehr als 250.000 Israelis haben inzwischen ihre Heimat im Norden des Landes verlassen und im Zentrum und im Süden des Landes Zuflucht gesucht. Ein Drittel der Bevölkerung muss jeden Tag Bunker aufsuchen. Mittlerweile sind fast 50 Israelis durch Hisbollah-Rakten ums Leben gekommen.
Uns Deutschen steht es auch aufgrund der besonderen Geschichte gut an, sich auf die Seite der mehrfach traumatisierten und bedrohten israelischen Bevölkerung zu stellen und Solidarität zu bekunden. Und das heißt auch, den von Hisbollah-Führer Nasrallah angeordneten und durch nichts zu rechtfertigen Raketenbeschuss sowie alle terroristischen Aktionen der Hisbollah, der Hamas und anderer militanter Organisationen scharf zu verurteilen.
Der Staat Israel hat nicht nur das Recht sondern auch die Pflicht, seine Bevölkerung vor dem Raketenbeschuss und anderen Terroranschlägen zu schützen. Es ist nachvollziehbar, dass die israelische Armee versucht, Raketenabschussrampen im Süden des Libanons zu zerstören.
Die internationale Gemeinschaft hat es versäumt, dafür zu sorgen, dass die Hisbollah entwaffnet wird und vom Südlibanon keine Gefahr mehr für Israel ausgeht. Die Entsendung einer internationalen Friedenstruppe mit robustem Mandat, die tatsächlich einen Raketenbeschuss Israels vom Südlibanon aus verhindern kann, ist notwendig und sollte deshalb auch von der Deutschland unterstützt werden.
Doch all dies ist nur die eine Seite der Medaille:
Sich unserer besonderen geschichtlichen Verantwortung bewusst zu sein und alles zu tun, was den Menschen in Israel mehr Sicherheit gibt und die Chancen für einen tragfähigen Frieden erhöht, muss allerdings nicht bedeuten, die Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung und des israelischen Generalstabs kritiklos hinzunehmen oder gar noch durch einseitige Stellungnahmen zu rechtfertigen.
Auf meiner letzten Nahost-Reise (10.-17. Juli) habe ich auch von mehreren israelischen Parlamentariern - zum Beispiel vom ehemaligen israelischen Justizminister und jetzigem Chef der Meretz-Partei Yossi Beillin - sowie von vielen Vertretern der Zivilgesellschaft harte Kritik an der israelischen Regierung gehört: Auf die Entführung von zunächst einem israelischen Soldaten mit dem Bombardement des Gaza-Streifens zu antworten, wodurch die Strom- und Wasserversorgung erheblich zerstört und bisher rund 150 palästinensische Zivilisten getötet wurden, habe stark zur Eskalation der Gewalt geführt. Und nach den zwei weiteren Entführungen durch die Hisbollah und den Raketenbeschuss sich nicht auf die Bekämpfung der Raketenabschuss-Rampen zu beschränken sondern Ziele in ganz Libanon zu bombardieren, was riesige Flüchtlingsströme ausgelöst und mittlerweile schon fast 1000 unschuldigen Zivilisten das Leben gekostet habe, seien heftige Überreaktionen, die keinen deut mehr Sicherheit schafften sondern - ganz im Gegenteil - alle Menschen in der Region noch größeren Gefahren aussetzten.
Ich halte diese Kritik der israelischen Opposition an ihrer Regierung für berechtigt. Und es hat nichts mit "anti-israelischen Reflexen" oder gar Antisemitismus zu tun, sich dieser Kritik anzuschließen und sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite diejenigen zu unterstützen, die aus dem Teufelskreis der Gewalt aussteigen wollen.
Besonders bewegt hat mich auf meiner letzten Nahost-Reise die Begegnung mit dem orthodoxen Juden und bekennenden "israelischen Patrioten" Yitzhak Frankenthal in Tel Aviv. Er hat vor einigen Jahren durch einen Anschlag der Hamas seinen Sohn Arik verloren, sich danach aber nicht von Rachegefühlen und Vergeltungswünschen leiten lassen sondern durch die Trauerarbeit zu einem unermüdlichen Engagement für Frieden und Versöhnung gefunden. Das von ihm gegründete Arik-Institut unterstützt Aktivitäten wie etwa die "parents circles", in denen israelische und palästinensische Eltern, die Kinder durch Terrorakte und Militärschläge verloren haben, von ihrer Trauer erzählen und zum gemeinsamen Friedensengagement finden.
Yitzhak Frankenthal hat uns Deutsche aufgefordert, gerade im Hinblick auf den Holocaust und unsere besondere historische Verantwortung die Kräfte in Israel und Palästina zu unterstützen, die für Versöhnung und einen gerechten Frieden eintreten und Kritik an denjenigen zu üben, die dem Irrglauben verfallen seien, die jeweils andere Seite verstehe nur die Sprache der Gewalt.
Es führt in die Irre, in diesem tragischen Konflikt danach zu fragen, ob man "für Israel" oder "für die Palästinenser" sei. Für welche Palästinenser? Für welche Kräfte in Israel?
Ich plädiere dafür, sich klar und deutlich für ein Existenzrecht Israels in sicheren Grenzen und ebenso für das Recht der Palästinenser auf einen lebensfähigen Staat auszusprechen. Eine gerechte Zwei-Staaten-Lösung kann nur durch Verhandlungen auf Augenhöhe und mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft erreicht werden.
Unilaterale Lösungen, die Verweigerung des Dialogs, Terroranschläge und der Versuch, den Konflikt mit illegalen Hinrichtungen ("gezielte Tötungen") und Bombardements in den Griff bekommen zu können, schüren nur den Hass und geben auf beiden Seiten denjenigen Auftrieb, die davon träumen, die Juden ins Meer zu treiben oder ein Palästinenser freies Groß-Israel zu schaffen.
Statt sich kritiklos auf die Seite der gegenwärtigen israelischen Regierung zu stellen oder sich undifferenziert mit "den Palästinensern" oder "den Libanesen" zu solidarisieren, sollten wir auf allen Seiten die Friedenskräfte unterstützen, die leider (noch?) in der Minderheit sind und Unterstützung dringend nötig haben.
Auf der internationalen Bühne sollten die Bemühungen von UN-Generalsekretär Kofi Annan unterstützt werden: Sofortiger Waffenstillstand; massive humanitäre Hilfe für die leidende Zivilbevölkerung, Entsendung einer UN-Friedenstruppe mit robustem Mandat (Kapitel 7) in den Libanon und Beginn ernsthafter Friedensverhandlungen unter Einbeziehung aller Beteiligten.