Bosnien nicht aus den Augen verlieren
PRESSEMITTEILUNG
NR. PM 014 von Thilo Hoppe, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Datum: 7. Dezember 2003
Fachgespräch zum Stand des Friedensprozesses acht Jahre nach Dayton
Ein langer Atem sei nötig, um dem Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina zum Erfolg zu verhelfen. Dies meinten nahezu alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Fachgesprächs, zu dem am Mittwoch (5. November) die Arbeitsgruppe Menschenrechte der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen ins Berliner Jakob-Kaiser-Haus eingeladen hatte.
Auf Initiative von Thilo Hoppe, Mitglied des Menschenrechtsausschusses und entwicklungspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, analysierten Experten aus Bosnien, Schweden und Deutschland die Lage auf dem Balkan und gingen der Frage nach, wie die internationale Gemeinschaft dem ins Stocken geratenen Friedens- und Versöhnungsprozess neue Impulse geben könne.
In dem von Thilo Hoppe und Bundesminister a. D. Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU) gemeinsam moderierten Gespräch wurde deutlich, dass sowohl die katastrophale wirtschaftliche Situation in Bosnien und Herzegowina als auch die nur schleppend vorangehende strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern den Versöhnungsprozess enorm erschweren.
Monika Kleck, die seit 1994 heilpädagogische Projekte in Tuzla und Srebrenica betreut, wies auf die große Zahl von kriegstraumatisierten Menschen – vor allem Frauen und Kinder – in Bosnien und Herzegowina hin. Ihre psychosoziale Betreuung sei völlig unzureichend. Auch deutsche Projekte seien oft unterfinanziert oder über einen viel zu kurzen Zeitraum angelegt. Die Behandlung von Traumata erfordere viel Zeit und Geduld. Zu allererst sei es nötig, den Opfern in aller Ruhe zuzuhören. Erst wenn ihr Leid wahrgenommen und geachtet worden sei, könnte behutsam der Weg der Versöhnung beschritten werden.
Jakob Finci, Präsident des interreligiösen Rates von Bosnien und Herzegowina sowie Marko Orsolic, Leiter des multireligiösen und interkulturellen Zentrums in Sarajewo, forderten die Etablierung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission für Bosnien und Herzegowina. Vertuschung und Verleugnung von Unrecht und Gewalt seien schlechte Voraussetzung für einen Friedensprozess. Versöhnung sei nur möglich, wenn man den Mut aufbringe, der Wahrheit ins Auge zu blicken und das geschehene Unrecht zu dokumentieren.
Dr. Azra Dzajic, Leiterin des Regionalbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajewo, berichtete von mehreren „gut gemeinten“ Versöhnungsprojekten deutscher Organisationen, die an der Realität vorbeigingen. Die Menschen aus verfeindeten Dörfern zum gemeinsamen Singen zu animieren, sei naiv. Man dürfe ihnen keine Versöhnungsvorstellungen „von außen überstülpen“ sondern müsse zunächst ihre Geschichte, ihren kulturellen Hintergrund und ihre Leiderfahrungen kennenlernen.
Bevor Versöhnung möglich sei, gehe es zuerst um die Wahrheit über den Krieg und um Gerechtigkeit gegenüber Tätern und Opfern. Dass Karadzic und Mladi? noch auf freiem Fuß seien, empfänden viele Opfer der Gewalt als unerträglich.
Auch Frank Orton, aus Schweden stammender Richter und noch bis zum Jahresende Ombudsmann für Menschenrechte in Bosnien und Herzegowina, verwies auf das mangelhafte Justizwesen.
Dr. Christian Schwarz-Schilling, der als Mediator in Bosnien und Herzegowina tätig ist, forderte eine Aufstockung der humanitären Hilfe für das noch schwer vom Krieg gekennzeichnete Land. Außerdem sollte die Mediation verstärkt werden. Schwarz-Schilling sprach auch die ausländerrechtliche Situation und Betreuung von traumatisierten bosnischen Flüchtlingen in Deutschland an. Entscheidungen der Ausländerbehörden und Abschiebungsurteile von Gerichten würden oftmals zu weiteren Traumatisierungen beitragen. Für traumatisierte Flüchtlinge seien rechtlich verbindliche Bleiberechtsregelungen nötig.
Die ReferentInnen forderten die internationale Gemeinschaft auf, Bosnien und Herzegowina nicht aus den Augen zu verlieren, sondern den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen und einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft mit größerem Engagement zu unterstützen. Außerdem müsse das Dayton-Abkommen weiterentwickelt werden, damit die Dreiteilung des Landes nicht zementiert werde. Solange die Nationalisten auf allen Seiten die Oberhand behielten, die weder an Wahrheit noch an Gerechtigkeit intereressiert sind, bleibe die Versöhnung schwierig und eine friedliche Entwicklung unsicher.
Thilo Hoppe kündigte an, dass sich die Arbeitsgruppe Menschenrechte der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen weiterhin sowohl für Bleiberechtsregelungen für traumatisierte bosnische Flüchtlinge als auch für eine quantitative und qualitative Verbesserung der humanitären Hilfe für Bosnien und Herzegowina einsetzen werde. Außerdem wolle man Anstöße zu einer Verbesserung der Versöhnungsprojekte des Zivilen Friedensdienstes geben und dazu Fachgespräche mit verschiedenen Forschungsgruppen initiieren, die neue Methoden der Konfliktaufarbeitung erproben.