Familienfahrt im Oktober 2004

BPA Gruppe 12.10.2004

 

BPA Gruppe 12.10.2004

Berlin war (auch für Kinder) eine Reise wert

Eine politische Bildungsreise mit Kindern und Erwachsenen in die deutsche Hauptstadt / Konfrontation mit der deutschen Geschichte

VON ARNOLD WEERS

Berlin. Alle waren pünktlich, als am Dienstag um neun Uhr morgens im Bus durchgezählt wurde. Nur einer fehlte. „Wo ist Karsten?“, hieß es, als es zum Jüdischen Museum in Berlin gehen sollte. Karsten, dem wir einen anderen Namen gegeben haben, hatte die Playstation im Foyer des Hotels entdeckt und um sich herum Zeit und Raum vergessen.

Karsten ist „Versuchsperson“ eines Experimentes, das der Auricher Bundestagsabgeordnete Thilo Hoppe und seine Mitarbeiterin Elke Brückmann initiiert hatten. Jedem Bundestagsabgeordneten stehen im Jahr zwei Einladungen an Gruppen seiner Wahl für „politisch orientierte Bildungsreisen“ in die Hauptstadt zu. Die gängige Regel in Ostfriesland ist es, dass hierzu Ortsvereine, verdiente Funktionäre oder andere Gremien mit kurzer Distanz zum jeweiligen Parteibuch eingeladen werden. Thilo Hoppe und Elke Brückmann gingen einen anderen Weg. Beide Eltern von schulpflichtigen Kindern sorgten kürzlich mit einer gemeinsamen politisch-historischen Bildungsreise für 28 Eltern mit ihren 22 Kindern nach Berlin für eine Premiere.

„Das ist schon etwas Besonderes“, so Dagmar Fischer vom Bundespresseamt, das die Organisation und die Programmplanung dieser Fahrten übernimmt. „Wir haben viele unterschiedliche Gruppen hier. Da sind Feuerwehren, Sportvereine, Seniorengruppen oder eben auch Parteigliederungen. Für jede dieser Gruppe stellen wir ein spezielles Programm zusammen. In diesem besonderen Fall mussten wir aber ein doppeltes Programm anbieten. Für die Erwachsenen gibt es die ‘normale’ Bildungsreise, und für die Kinder ein alternatives Angebot, das mit dem Angebot der Erwachsenen gemischt wird. Schließlich kann auch frühe politische Bildung den Kids nicht schaden.“

Und so kam es, dass Karsten von der Playstation Abschied nehmen musste, um die erste Station der Bildungsreise nicht zu versäumen. Im neuen Jüdischen Museum kam es zur ersten Trennung der Altersgruppen. Die Kinder waren noch etwas unsicher, sie kannten sich noch nicht. Wie sich später zeigte, war die Führung für die Kinder methodisch noch nicht optimal auf die richtige Altersstufe ausgelegt. Aber die Konfrontation mit den Auswüchsen einer Diktatur zeigte ihre Wirkung: Offensichtlich waren die Kinder beeindruckt vom Gesehenen.

In Kreuzberg gab es ein türkisches Menü. Es wurde von den Kindern zunächst misstrauisch beäugt, aber dann (von den meisten) gerne genommen. Überhaupt hatte das Essen in den drei Berliner Tagen einen besonderen Stellenwert: Einem üppigen Frühstücksbuffet im Hotel folgten täglich zwei warme Mahlzeiten. Da es keine „Extrawürste“ gab, hieß es gelegentlich: „Friss Vogel, oder stirb“. Keine Chance für die Eltern, irgendetwas am Speiseplan zu ändern. Der Abwägungsprozess zwischen Hunger und dem Mut zu Experimenten endete zumeist mit der Bekämpfung des Hungers. Auch das war ein angenehmer, wenn auch nicht unbedingt ein politischer Lernfortschritt – jedenfalls aus der Sicht der Erwachsenen.

Das Nachmittagsprogramm des Dienstages war generationsübergreifend. Stadtrundfahrt, Sightseeing am Potsdamer Platz, Besuch des Plenarsaales und schließlich Gesprächstermin mit dem Gastgeber im Reichstag. Thilo Hoppe kam direkt aus Südamerika. Sein Gepäck war noch irgendwo unterwegs und er hatte seit 35 Stunden kaum geschlafen. Eigentlich hätte er über den Arbeitstag eines Bundestagsabgeordneten Berichten sollen. Aber die Schilderung Südamerikas mit seinen ökologischen und ökonomischen Problemen war spannender. Die Kinder wurden während dessen im Reichstag separat betreut und konnten so das Logo der Bundesrepublik, den Bundesadler des Plenarsaales, von hinten sehen. Er soll nach hinten lächeln, so heißt es, aber das blieb den Erwachsenen verwehrt und das war eigentlich schade. Thilo Hoppe zeigte trotz Schlaflosigkeit und Jetleg erstaunliche Kondition, nahm noch am gemeinsamen Abendessen im Hotel teil und schwänzte auch die Gespräche im kleinen Kreis am Biertisch nicht. Dort wurde allerlei Parteikram diskutiert, bis man ihn doch in Sorge um seine Gesundheit ermahnte, dem Lockruf des Sandmännchens zu folgen. Die Kinder schliefen derweil schon lange und die Eindrücke und Anstrengungen des Tages sorgten bei ihnen für einen tiefen Schlaf. Das war durchaus angenehm für die in der Hotelbar versammelten Erwachsenen und es wurde spät.

Die jungen politischen Bildungsreisenden waren am nächsten Morgen „fit wie die Turnschuhe“. Im Fahrstuhl, an der Playstation und im Foyer des Hotels herrschte ein Gewusel, wie es nur zehn- bis 13jährige Kinder veranstalten können. Das Hotelpersonal wahrte freundlich-cool die Contenance, ebenso wie Flugkapitäne, Stewardessen und andere Gäste des Hotels, das erkennbar zu Recht mit dem Prädikat „Familienfreundlich“ für sich wirbt.

Der Mittwoch war programmatisch komplett zweigeteilt. Während die Erwachsenen beim Deutschlandradio und im Deutschen Dom auf dem Gendarmenmarkt über die historische Dimension der deutschen Geschichte und im Presseamt über zeitgenössische Aspekte der Familienpolitik informiert wurden, stand für die Jüngsten ein Besuch im Technischen Museum sowie die Erkundung des Berliner Gegenstückes zum Auricher Mach-Mit-Museum auf dem Programm.

„Papierschöpfen im technischen Museum war OK. Aber das Auricher Mach-Mit-Museum ist vielfältiger, abwechslungsreicher und damit besser“, so der fachkundige Kommentar der Auricher Jugend. Es ist doch beruhigend zu wissen, dass wir in der Provinz nicht immer nur provinziell sind und das unsere Hauptstadt nicht immer in allem Spitze ist...

Shopping stand nicht auf dem Programm. So war es keineswegs einfach, ebenso wichtige wie simple Souvenirs wie beispielsweise ein Gummipferd käuflich zu erwerben. Ohne ein solches Souvenir wäre die Reise nach Berlin kein Erfolg gewesen. Und so ging es im Sauseschritt nach dem Abendessen und vor Ladenschluss binnen 13 Minuten entlang der sündhaft teuren Boutiquen, Autosalons, Botschaften und Kunstdenkmalen „Unter den Linden“ zum Alexanderplatz in ein „stinknormales“ Kaufhaus. Dort wurde man fündig, und damit war der Reiseerfolg gesichert. Die Flucht aus dem straffen Bildungsprogramm gelang nur einer Familie aus dem Emsland. Aus beruflichen Gründen, so die einleuchtende Erklärung, müsse man sich unbedingt den Pergamon-Altar ansehen. Das mag ja sein, so dachte man sich. Dass dort aber H&M-Tüten als Verpackungsmaterial für Literatur und andere Bildungsträger verwendet werden, regte im Kreise der Bildungsreisenden zur Nachdenklichkeit an. Das Nachdenken hatte kein Ergebnis, schließlich wird heutzutage vieles gesponsert, und das könnte ja auch für die Museumsinsel gelten...

Zum Abschluss am Donnerstag gab es beim Besuch des Mauermuseums an der Bernauer Straße die direkte Konfrontation mit der jüngsten deutschen Geschichte. Hier wurde ein vielleicht 30 Meter langes Stück Todesstreifen konserviert oder genauer gesagt: Es wurde rekonstruiert. Die Mauer, die einst sichtbarer Ausdruck der Teilung der Welt in „freiheitlich“ und „kommunistisch“, in „gut“ und „böse“ war, ist in Berlin so gut wie spurlos verschwunden. An dieser Stelle wurde sie mehr als Kunstwerk inszeniert, denn authentisch konserviert. Das Szenario eines nagelneuen Stückes Mauer, einer geharkten Sandzone mit sichtbaren Fußspuren, Peitschenlaternen und der Hintermauer mit Sichtlöchern können kaum das bedrückende Gefühl vermitteln, das der Zeitzeuge seinerzeit und beiderseits der Mauer beim Anblick des Originals empfunden hat.

Die Kinder interessieren die Einzelschicksale, die sie zu hören bekommen. Liebende, die getrennt wurden, Familien, die sich nur noch über den Stacheldraht zuwinken konnten und der Fluchtversuch, einer siebzigjährigen Frau, die sich aus dem dritten Stock eines Hauses abseilen will: Oben halten Vopos und unten zerren Westberliner - Sie fällt schließlich und überlebt. Andere bezahlten mit dem Leben für die Flucht vor den Segnungen des real existierenden Sozialismus. Trotz der Kälte draußen bleibt auch bei den Kindern einiges hängen. Und sei es auch nur im Unterbewusstsein. Diese Reise war ein Experiment und es war ein sinnvolles Experiment, das Thilo Hoppe und Elke Brückmann mit Hilfe des Bundespresseamtes initiiert haben. Darauf gilt es aufzubauen und es sollte nicht die letzte Fahrt von Kindern und Eltern an diesen Schauplätze der jüngeren Weltgeschichte sein.

Die Kinder von heute haben im Gegensatz zu den meisten „politisch orientierten Bildungsreisenden“ ihre politischen Erfahrungen noch vor sich und da ist ein direkter Blick auf das Gewesene hilfreich. Was es wirklich bedeutet, heute spielerisch im Spagat über jener diskreten Markierung zu stehen, die 160 Kilometer quer durch Berlin verläuft und die einst die Welt teilte, werden sie vielleicht erst später begreifen. Und vielleicht wird ihnen die Absurdität dieser Weltenteilung und der Wert einer toleranten Gesellschaft eines Tages um so deutlicher werden.