Bestandsaufnahme ohne Wegweiser
Zum Weißbuch der Bundesregierung zur Entwicklungspolitik
Die Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung werden im Weißbuch Entwicklungspolitik umfassend beschrieben. Auch der Blick auf wichtige globale Entwicklungstrends hilft, klarer zu verstehen, welche Entwicklungsfortschritte in den vergangenen Jahrzehnten gemacht wurden. Angesichts der noch heute schockierenden Zahlen der globalen Armut, wird manchmal vergessen, dass die Armut insgesamt seit 1990 prozentual stark abgenommen hat. Lebten damals etwa 30% (1,24 Mrd. Menschen) der Weltbevölkerung in absoluter Armut, sind es heute noch gut 19% (unter 1 Mrd.). Gleichzeitig wuchs die Weltbevölkerung in dieser Zeit von 5,3 (1990) auf heute 6,7 Mrd. Menschen. Dass diese Erfolge der Entwicklung auch schnell wieder zunichte gemacht werden können, zeigen aktuell die hohen Nahrungsmittelpreise. So schätzt die Welternährungsorganisation (FAO), dass schon in diesem Jahr die Zahl der Hungernden um 50 Millionen Menschen zunehmen könnte.
Doch nach der Lektüre des Weißbuchs Entwicklungspolitik bleibt offen, welchen Anteil Entwicklungszusammenarbeit (EZ) an der Bewältigung der Probleme zu leisten im Stande ist und was in anderen Politikfeldern bewegt werden muss, um zukünftig weiterzukommen. Zwar wird erwähnt, dass in vielen Ländern andere Faktoren die wirtschaftliche Entwicklung weit stärker beeinflussen als die EZ. Doch die Reichweite der Entwicklungszusammenarbeit gerade in Ländern, die nicht zu den ärmsten gehören, wird nicht hinterfragt. Oft hängen diese Länder stärker von anderen Faktoren wie beispielsweise den Einnahmen aus der Ressourcennutzung, Rückflüssen von (Arbeits-)Migranten und dem Zugang zu privaten Kapitalmärkten ab als von den Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit. Dies ist begrüßenswert, weil immer ein Ziel der Kooperation auch darin besteht, die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von Zuflüssen der Geber zu reduzieren.
Trotzdem leistet die EZ auch in diesen Ländern wesentliche Beiträge zur Entwicklung, insbesondere in speziellen Bereichen, wie dem Wassersektor und dem Umwelt- und Ressourcenschutz. Entsprechend sind viele Entwicklungsländer stark daran interessiert, die bilaterale Zusammenarbeit weiterzuführen. Diese konkreten Beiträge der EZ hätten in dem Weißbuch besser herausgearbeitet werden müssen.
Wer das Weißbuch liest, den kann zudem das Gefühl der "Selbstüberforderung" der Entwicklungspolitik beschleichen. Reichweite und Grenzen der Entwicklungspolitik müssen sorgfältig analysiert werden. Wer dies nicht tut, bestärkt die Stimmen, die angesichts gewisser negativer globaler Trends zu dem Ergebnis kommen, Entwicklungspolitik "bringe ja eh´ nichts".
Was zwischen den Zeilen auch deutlich wird, ist die Tatsache, dass immer mehr Akteure innerhalb der Bundesregierung in der internationalen Zusammenarbeit agieren. Wie aber stimmen sich die unterschiedlichen Ministerien intern ab? Wie sieht eine gemeinsame Strategie über den deutschen Beitrag zur Lösung von Entwicklungsproblemen aus? Das Weißbuch bietet keine eindeutigen Antworten auf diese dringenden Fragen. Das zeigt, dass eine Gesamtstrategie der Bundesregierung nicht erkennbar ist.
Die Zieldimension der Entwicklungspolitik der Bundesregierung kann kaum kritisiert werden: Armut bekämpfen, Umwelt und Klima schützen, Frieden sichern, Demokratie fördern und Globalisierung gerecht gestalten, heißen die vier Leitmotive. Wer sollte diese Zielperspektive – handelt es sich doch um globale Menschheitsaufgaben - nicht teilen?
Während es vorne im Text zutreffend heißt, die Entwicklungspolitik sei Teil einer "globalen Struktur- und Friedenspolitik", lesen wir wenig später; O-Ton des Weißbuchs: "mit diesen Vorgaben für die heutige Entwicklungspolitik sind wir auf gutem Weg, bis zum Jahr 2015 eine gerechtere Welt zu schaffen". Mit solchen Allgemeinplätzen ist keinem geholfen. Die Bundesregierung muss klarer definieren welche Anforderungen sie an die Politik insgesamt stellt und welche Ansprüche sich auf die Reform und Neuorientierung des eigenen Politikfelds beziehen.
Die Bundesregierung lässt nicht erkennen, dass sich die oben genannten Ziele in der Regierungspolitik insgesamt abbilden. Zahlreiche Detailentscheidungen sind "entwicklungsfeindlich". Als Beispiel dienen aus grüner Sicht die europäischen Agrarsubventionen, die Märkte in den Entwicklungsländern zerstören, eine mangelnde Entwicklungsorientierung von Handelsabkommen, der Verzicht auf innovative Formen der Entwicklungsfinanzierung und manches mehr.
Das Weißbuch stellt in praktisch allen Sektoren der Millenniumsentwicklungsziele - Bildung, Gesundheit, Förderung der ländlichen Entwicklung, Aufbaus von Finanzsystemen, Klima- und Ressourcenschutz - dar, wo überall "Gutes" von deutscher Seite getan wird. Es identifiziert relativ neue Themen, wie den Aufbau angepasster sozialer Sicherungssysteme oder die Rolle großer Schwellenländer und privater Stiftungen als "neue Geber". Dabei beantwortet es aber nicht die Frage welche Veränderungen sich hieraus für die deutsche Zusammenarbeit ergeben.
So zweifelsfrei wichtig alle diese Themen sind, müsste weit klarer identifiziert werden, worin der besondere Beitrag der deutschen Entwicklungspolitik besteht und wie dieser in der bilateralen Zusammenarbeit oder auch durch gezielte Intervention auf multilateraler Ebene umgesetzt wird. Es reicht nicht, zu beschreiben, in welchen Bereichen die deutsche EZ überall "dabei" ist. Die Debatten über die bessere Abstimmung zwischen den Gebern, die Selbstverständigung auf die komparativen Vorteile der jeweils spezifischen Form der Entwicklungszusammenarbeit werden nicht präzise herausgearbeitet. Wer den Text liest, mag denken, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sei überall gleich gut und gleich wichtig.
Viel wichtiger aber wäre es, über eine stärkere Konzentration der Entwicklungspolitik nachzudenken und im Sinne des "Muts zur Lücke" sich nicht auf allen Feldern gleichermaßen engagieren zu wollen. Zu dieser Diskussion hat das vorliegende Weißbuch keinen entscheidenden Beitrag geleistet.